Sich verlassen
Ein Beitrag von P. Franz Richardt OFM, Geistlicher Direktor vom Haus Ohrbeck in Georgsmarienhütte
Der Augenblick des Todes ist der Augenblick des großen Lassens. Wir lassen unser Leben los, wir lassen unsere lieben Menschen los, wir lassen uns selbst los. Im Loslassen überlassen wir uns einer anderen, größeren Wirklichkeit, die keiner je gesehen hat. Kein Toter ist zurückgekommen. Menschen, die an Gott glauben, vertrauen sich im Augenblick des Todes diesem großen Geheimnis „Gott“ an. Dieses Sich-Gott-Überlassen ist ein Akt des reinen Vertrauens. Christen vertrauen darauf, dass Gott uns auf der anderen Seite des Todes auffängt.
Mir hilft ein Bild. Wir alle kennen Trapezkünstler in der Zirkuskuppel. Ein Fänger hat sich mit seinen Knien, Unterschenkeln und Füßen an Stange und Seil befestigt. Hängend am Trapez schwingt er mit freien Armen, um einen Springer aufzufangen, der sich von weiter oben fallen lässt. Für diesen risikoreichen Akt und Augenblick hat der Artist Rodleigh aus der Trapez-Gruppe „The Flying Rodleighs“ die schlichte Weisheit formuliert: „Ein Springer muss fliegen und der Fänger muss fangen.“ Und er fügt hinzu: „Das Geheimnis besteht darin, dass der Springer nichts tut und der Fänger tut alles.“
Nur der Fänger darf mit seinen Armen zugreifen, der Springer muss sich ganz dem Augenblick überlassen und vertrauen, dass der Fänger mit seinen Händen da ist. Der Springer darf nicht greifen. Er darf sich nur ergreifen lassen. Will er sich absichern und greift er selbst zu, kann es zu Verletzungen und Armbrüchen kommen.
Dieses Bild hilft mir, ein wenig zu ahnen, was im Augenblick des Todes Wirklichkeit wird. Als Mensch müssen wir loslassen, springen, fliegen, ohne greifen zu können. Als gläubige Menschen vertrauen wir darauf, dass wir im Augenblick des Absprungs von den Armen Gottes aufgegriffen werden. Sehr trostvoll sagt Jesus im Johannesevangelium für diesen Augenblick und für unsere ganze gläubige Lebenswirklichkeit: „Ich gebe ihnen ewiges Leben. Sie werden niemals zugrunde gehen und niemand wird sie meiner Hand entreißen.“ (Joh 10,28)
Ich hoffe, dass ich im Sterben die Kraft aufbringe, mich diesem Gott anzuvertrauen, der mich mit seinen starken Armen auffangen und sicher auf die Seite des ewigen Lebens stellen will.